ORTE JÜDISCHER KULTUR IN ESSLINGEN

  • Galerie
  •  
  • Artikel
  •  

    Dr. Joachim Hahn

    Theodor Rothschild und das israelitische Waisenhaus "Wilhelmspflege" in Esslingen

    1. Sorge um Waisen - ein zentrales Gebot in der Bibel und im Judentum

    Bereits in alten Rechtsbüchern innerhalb des Alten Testaments der Bibel nehmen Waisen eine Sonderstellung ein. Es war Pflicht von jedermann, sich für das Recht der Waisen wie auch für das der Witwen und der Fremdlinge im Land einzusetzen. Sie waren die in sozialer Hinsicht besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen. Jedes Unrecht ihnen gegenüber galt als schlimmes Verbrechen. dass solches Unrecht nicht selten vorkam, wird an der Kritik vieler Propheten deutlich, die immer wieder dazu aufrufen mussten - wie es Jesaja 1,17 formuliert wird: "Lernt Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führet der Witwen Sache!". Im Auftrag Gottes hatte Israel, hatte das ganze Volk die Pflicht, für das Recht von Waisen einzutreten. Gott selbst wird in Psalm 68,6 als "Vater der Waisen", an anderer Stelle als deren Schutzherr bezeichnet. Auf Grund dieser klaren Weisungen der Bibel ist es kein Wunder, dass in der nachbiblischen jüdischen Tradition die Sorge für Waisenkinder immer zentrales Anliegen einer jüdischen Gemeinschaft bzw. einer jeweiligen Großfamilie waren. Im Talmud steht geschrieben (Sanhedrin 19b): "Wer für ein Waisenkind sorgt, sorgt für sein Kind, denn die Pflicht, für den Verwaisten zu sorgen, ist so heilig wie die Sorge für das eigene Fleisch und Blut". Für die Pflege der Waisenkinder suchte man gewöhnlich einen Platz innerhalb der nächsten Angehörigen. In späteren Jahrhunderten kennt man auch die besondere Ernennung eines Vormunds als Vertreter der Gemeinschaft, der für das Recht eines Waisenkindes sorgte. Unüblich war in alter Zeit freilich die Einrichtung eines gesonderten Hauses für Waisenkinder.

    2. Voraussetzungen für die Gründung des israelitischen Waisenhauses in Esslingen

    a) Juden in Württemberg und insbesondere in Esslingen zu Beginn des 19. Jahrhunderts

    Im Zusammenhang mit den politischen Veränderungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts kamen zum bisherigen Herzogtum Württemberg eine große Zahl von geistlichen und weltlichen Herrschaften, in denen teilweise seit mehreren Jahrhunderten jüdische Gemeinden bestanden hatten. Darunter waren in unserer Umgebung Orte wie Jebenhausen bei Göppingen, Wankheim bei Tübingen, Rexingen und andere Orte in der Umgebung von Horb, Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb; Hochberg, Aldingen und Freudental im Bereich von Ludwigsburg und etliche andere Gemeinden im Unterland, im Hohenlohischen Bereich, auf der Ostalb oder in Oberschwaben. Insgesamt waren dies etwa 60-70 Orte mit einem teilweise hohen jüdischen Bevölkerungsanteil. Nachdem diese Orte zu Württemberg gekommen waren, suchte die staatliche Gesetzgebung auch die Verhältnisse der Israeliten im Königreich neu zu ordnen, zu vereinheitlichen, im Verlauf der Jahrzehnte zu liberalisieren und denen der Christen anzugleichen. Nach 1860 war schließlich die von jüdischer Seite lang ersehnte bürgerliche Gleichstellung der jüdischen Untertanen mit den christlichen erreicht. Die ehemalige Reichsstadt Esslingen nahm in diesem Prozeß der Veränderungen der rechtlichen Situation eine ganz besondere Rolle ein. Denn hier hat der württembergische König Friedrich schon 1806 die Aufnahme mehrerer jüdischer Familien aus Wankheim und die Gründung einer neuen jüdischen Gemeinde mit eigenen Einrichtungen wie Synagoge und Friedhof gestattet. Dies war in dieser Weise in den anderen Reichsstädten oder den altwürttembergischen Landstädten sonst noch nicht möglich; auch in Stuttgart kam es erst 1834 zur Gründung einer jüdischen Gemeinde. In Esslingen wurden bis um 1820 etliche weitere jüdische Familien aufgenommen, wenngleich sich hiergegen bald der Protest der alteingesessenen Kaufleute und des städtischen Magistrats richtete. Dieser sorgte bis um 1820 dafür, dass die Esslinger jüdische Gemeinde in den folgenden Jahren nur noch langsam gewachsen ist. Durch die Öffnung Stuttgarts für den Zuzug jüdischer Familien stagnierte die Zahl der Juden in Esslingen alsbald und betrug in den kommenden Jahrzehnten und zwar bis nach 1933 immer nur zwischen 100 und 150 jüdischen Einwohnern ohne die Kinder des Waisenhauses. Dennoch hatte Esslingen trotz seiner relativ kleinen jüdischen Gemeinde für das württembergische Judentum eine ganz besondere Bedeutung. Zum einen wurden hier schon seit 1821 auch die israelitischen Lehrer und Vorsänger für ganz Württemberg am evangelischen Lehrerseminar ausgebildet, zum anderen kam es 1841/42 zur Gründung eines israelitischen Waisenhauses.

    b) Zeitumstände, die zunächst zur Gründung eines israelitischen Waisenvereines führten

    Die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren für weite Teile der Bevölkerung zu einer sehr notvollen Zeit geworden. Die Auswirkungen der Kriegsjahre um 1800, mehrere Mißernten in Folge (insbesondere 1816 und 1817) brachten Hunger, Teuerung und Verwahrlosung mit sich. Doch wurde dies zugleich eine Zeit, in der auf Grund der schwierigen Situation vielerorts Anstalten für Hilfsbedürftige gegründet wurden. In Süddeutschland wurde die Armenschullehrer- und Kinderrettungsanstalt Beuggen bei Basel, die durch Christian Heinrich Zeller 1820 gegründet worden war, Vorbild für viele andere Einrichtungen. Da die Not in vielen jüdischen Familien auf dem Land noch viel größer war als in christlichen Familien, sind gerade auch von jüdischer Seite aus sehr bald Überlegungen angestellt worden, wie dem Elend unter den eigenen Kindern abgeholfen werden könne. 1830 forderte der jüdische Buchhändler in Ellwangen Isak Heß öffentlich dazu auf, dass die Juden Württembergs eine Einrichtung schaffen sollten, die sich der hilfsbedürftigen jüdischen Kinder annehmen und für ihre geordnete Erziehung sorgen müsse. Schon Jahre zuvor hatte sich Heß unermüdlich um die kulturelle Hebung der württembergischen Juden bemüht. Ihm gelang es, für seine Gedanken einflußreiche Männer und Frauen zu gewinnen. Auf Grund des durchweg positiven Echos auf seine Bemühungen konnte Heß im April 1831 einen provisorischen Ausschuß zusammenrufen für den - wie die allererste Bezeichnung lautete - "Verein zu einer Versorgungsanstalt für israelitische arme Waisen und verwahrloste Kinder". Dem Ausschuß gehörten zehn Männer an, die einen Vorstand bildeten und die Aufgaben des Sekretärs und des Kassiers unter sich bestimmten. Alle arbeiteten unentgeltlich mit. Von seiten des Königs erfuhr der Verein wenig später eine kräftige finanzielle Unterstützung: schon 1831 ließ er dem Verein 300 Gulden zukommen. Der von Heß zusammengerufene Ausschuß arbeitete insbesondere die Vereinsstatuten aus, die vom Königlichen Ministerium kurz darauf genehmigt wurden. Als Zweck des Vereins wurde die Gründung einer Versorgungsanstalt festgelegt. Das Aufnahmealter konnte zwischen sechs bis elf Jahren liegen. Die Kinder sollten vorerst auf Kosten des Vereins zur Verpflegung auf das Land verteilt und möglichst bei israelitischen Lehrern an Orten mit Rabbinatssitz und guter Schule untergebracht werden. Am 27. September 1831, dem Geburtstag König Wilhelms I. wurden die ersten acht Waisen aufgenommen, denen schon im nächsten Jahr sieben weitere folgten. Insgesamt wurden in den ersten zehn Jahren, in denen der Verein dann eine offene Waisenpflege übte -also noch ohne Waisenhaus -, insgesamt 55 Zöglinge - Knaben wie Mädchen - aufgenommen und fast durchweg in Familien jüdischer Lehrer im Land zu Erziehung und Pflege gegeben. Aus welch verwahrlosten Zuständen die Kinder teilweise gekommen sind, wird aus einem Bericht von 1832 über die im Jahr zuvor aufgenommenen Geschwister Augsburger deutlich: "Ihr Zustand ist jetzt, nach Ablauf eines Jahres, noch von der Art, dass es zweifelhaft ist, ob sie je ihre Altersgenossen einholen werden. Um diese Besorgnisse wahr zu finden, muß man den Zustand kennen, in welchem sie zu ihren Pflegeeltern kamen, muß wissen, dass in Folge früherer Vernachlässigung Geist und Körper beinahe in einen untätigen Zustand verfielen, sodass sie wegen ihrer starren Glieder längere Zeit an- und ausgekleidet werden mußten. In dem Grade waren sie an Entbehrungen gewöhnt, dass sie die Nächte am liebsten auf dem harten Boden zubrachten. Ihre Sprache waren unverständliche Töne: der jüngere siebenjährige Knabe brachte nur einige unartikulierte Laute hervor, mit denen er alle seine Vorstellungen und Empfindungen anzudeuten versuchte. Ihre Sinnesorgane schienen ihre Verrichtungen beinahe verlernt zu haben; beide Knaben zeigten eine Unbekanntschaft mit den gemeinsten und alltäglichsten Gegenständen der Natur. Die schöneren Gefühle waren ihnen fremd, als Brüder kannten sie einander nicht und von dem, was über der Erde und über allen Welten ist, vermochte ihre Seele nichts zu ahnen". Drei Jahre später hieß es im Jahresbericht über dieselben Kinder: "Die bei ihrer Aufnahme an Leib und Seele siechen und verkrüppelten, beinahe bis zum Kretinismus herabgesunkenen Geschwister Augsburger erkennen Sie aus den Berichten nicht mehr. Ein ganz anderer Geist belebt diese Kinder, und Kräfte sind aufgeweckt worden, die vorher in tiefem Schlummer gelegen hatten. Zwar wird der letzte Rest der früheren, fürchterlichen Verwahrlosung, eine unheilbare Schwäche der Sinnesorgane sie bis ins Grab begleiten. Aber wegen ihrer Zukunft dürfen wir doch nicht in dem Maße besorgt sein, und es ist zu hoffen, dass sie noch zu guten Menschen, und vielleicht auch zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft werden erzogen werden können. Auch hier hat Gott unser Wirken reicher gesegnet, als wir es zu hoffen wagen durften". Soweit diese Berichte. Mit dem 14. Lebensjahr endete gewöhnlich die Pflegezeit der Kinder in den Familien. 1837 konnte die erfreuliche Mitteilung gemacht werden, dass inzwischen zahlreiche ehemals vernachlässigte Kinder aus dem Verein entlassen werden konnten. Etliche der Jungen hatten inzwischen sogar ein Handwerk erlernt, einige der Mädchen hatten Dienststellen in Familien angetreten.. Einer der aufgenommenen Jungen hatte sogar ein Studium in Tübingen aufgenommen.

    3. Die Gründung des israelitischen Waisenhauses "Wilhelmspflege" in Esslingen 1841/42

    Von vornherein war die Aufnahme und Pflege der Bedürftigen in einzelnen Familien als Vorstufe zur Gründung eines Waisenhauses gedacht, doch mußten hierfür erst in jahrelangen Bemühungen die notwendigen Gelder gesammelt werden. Am 4. Oktober 1840 wurde das zehnjährige Bestehen des "Vereins zur Versorgung armer israelitischer Waisen und verwahrloster Kinder" mit einer Feier im großen Saal des oberen Museums in Stuttgart begangen. Vereinsvorstand Dr. Samuel Dreifuß forderte im Zusammenhang damit die Israeliten des Landes auf, eine Sammlung zu veranstalten, die dem Erwerb eines Hauses für die geschlossene Waisenpflege zukommen sollte. Der Erfolg der Sammlung führte dazu, dass der Verein im Sommer 1841 in Esslingen am Entengraben ein Haus erwerben konnte, das für diesen Zweck sehr geeignet erschien. Es handelte sich um ein 1709 erbautes Gebäude, das ursprünglich im Besitz adliger Familien war. Die Kosten für die Erwerbung, Herrichtung und Einrichtung des Hauses beliefen sich auf 14800 Gulden. Am 30. Oktober 1842 wurde das neue Waisenhaus, welches mit Genehmigung des Königs Wilhelmspflege genannt werden durfte, feierlich eingeweiht und mit 26 Zöglingen belegt. Esslingen war damit die fünfte Stadt in Deutschland mit einem jüdischen Waisenhaus geworden. 1763 war in Fürth ein erstes gegründet worden; es folgten 1766 Hamburg, 1789 Berlin und 1805 Breslau.

    4. Geschichte der "Wilhelmspflege" unter Hausvater Leopold Liebmann - 1842 bis 1873

    Zum ersten Hausvater wurde der seit 1825 an der israelitischen Volksschule Esslingens unterrichtende Leopold Liebmann gewählt. Er war nach einer Charakteristik "ein Mann von reichem Wissen, zähem Fleiß, erprobter Unterrichtsgabe und angeborenem Sinn für die Behandlung schwer erziehbarer Kinder". Von vornherein sollte das Waisenhaus in Esslingen mit der dortigen israelitischen Gemeinde eng verbunden sein. Daher bat der Waisenverein das Evangelische Konsistorium, ihm die Errichtung einer eigenen israelitischen Waisenschule in Esslingen sowie die Verbindung dieser Schule mit der israelitischen Gemeinde in der Stadt zu gestatten. Auf Grund dieser Verbindung ergaben sich dann auch die Aufgaben Liebmanns, die in seinem Anstellungsvertrag festgelegt wurden: Liebmann sollte demnach zwar seine ganze Zeit und Tätigkeit der Anstalt und den Pfleglingen widmen, aber zugleich den ihm vom Staat übertragenen Unterricht im Lehrerseminar weiterführen, als Vorsänger der Gemeinde jeden Sabbat eine deutsche Predigt in der Synagoge halten und die Geschäfte der israelitischen Vorsteheramts in Esslingen besorgen. Eine Entlastung von zahlreichen bisherigen Aufgaben gab es jedoch alsbald durch die Anstellung eines eigenen Lehrers, Vorbeters und Schächters für die Stadtgemeinde. Zu seiner Unterstützung im Waisenhaus wurden auch ein zweiter Lehrer und eine Aufseherin angestellt. Der zweite Lehrer war gewöhnlich ein Seminarist unmittelbar nach Abschluß seiner Prüfungen am Lehrerseminar. Seine Hauptaufgabe war, die Jungen außerhalb der Schulzeit mit Rat und Tat zu begleiten. Man wohnte und schlief auch in gemeinsamen Räumen. Der Hilfslehrer erhielt freie Wohnung und Verpflegung, dazu freies Licht, Brennholz und Kleidung sowie ein Jahresgehalt von 80 Gulden. Ein entsprechender Dienstauftrag im Blick auf die Aufsicht der Mädchen wurde mit jeweils einer Aufseherin abgeschlossen Neben dem Unterricht in Stricken, Spinnen und Nähen mußte sie die ihr Anbefohlenen zur Herstellung, Reinigung und Instandsetzung der Wäsche und Kleidungsstücke aller Zöglinge anleiten. Sie erhielt als Entlohnung gleichfalls freie Wohnung und Verpflegung, Licht, Brennholz und Wäsche. Ihr Jahresgehalt betrug 100 Gulden, zusätzlich für die Anfertigung von Kleidern 10 Gulden jährlich. Nach den überlieferten Berichten sah Liebmann seine Hauptaufgabe an den Kindern im Bereich einer guten schulischen Bildung verbunden mit einer strengen Erziehung. Seine Schule gehörte auch bald zu den besten israelitischen Schulen in Württemberg. Eine Fremdsprache (Englisch oder Französisch) konnte von den Schülern gelernt werden; die Realfächer kamen nicht zu kurz. Liebmann wollte keine "Vielwisser" heranbilden, jedoch seinen Schülern mit einer soliden Schulbildung eine wertvolle Grundlage für ihr weiteres Leben verschaffen. Vom zweiten Lehrer und der Aufseherin wurden die Zöglinge überwacht; über sie war täglich in einem Rapportbuch zu berichten und zwar über den Befund des Körpers, der Kleidung, der Schuhe, des Bettes, über das Verhalten bei Tisch, beim Baden und Turnen. Die Tageseinteilung eines Werktages war unter Liebmann: Unterricht von 7 bis 12 und nachmittags von 1 bis 3 Uhr; anschließend von 3 bis 4 Uhr wurden Schulaufgaben erledigt, hierauf folgte bis 6 Uhr Arbeit im Holzstall, danach von 6 bis 7 Uhr Vorbereitung für die Fremdsprache, von 7.30 bis 8 Uhr Turnen. Dennoch hat Liebmann mit den Kindern auch vieles unternommen. Spaziergänge, größere Ausflüge, Anschauungsunterricht in freier Natur fanden regelmäßig statt; hin und wieder stand sogar der Besuch eines Manövers, des Jahrmarktes oder des Cannstatter Volksfestes auf dem Programm. Das religiöse Leben bewegte sich unter Liebmann ganz nach den Vorschriften der jüdischen Religion "im Geist echter Frömmigkeit". Am Sabbat hielt er eine Predigt. Am Sonntag hatten die Kinder den Inhalt der Predigt aus dem Gedächtnis niederzuschreiben. Bei den häuslichen Andachten verwendete er vielfach Gebete in deutscher Sprache. Die Arbeit im Waisenhaus, die Entwicklung der Zöglinge wurden von dem in Stuttgart tätigen Waisenhausverein intensiv begleitet und beobachtet. Vorstand des Vereins war bis 1853 der Stuttgarter Arzt Dr. Samuel Dreifuß. Seine jährlich vorgetragenen Berichte zeugen von seiner großen Liebe und Verbundenheit mit dem Waisenhaus. Unermüdlich schrieb er Gemeinden und Privatleute mit der Bitte um Spenden an. Tatsächlich hat die "Wilhelmspflege" auf eine große Spendenbereitschaft von seiten der württembergischen Juden und darüber hinaus bauen können. Nach dem Tod von Dr. Samuel Dreifuß übernahm seine Stelle Hofrat Adolf Levi. 30 Jahre lang war er Vereinsvorstand und hat dies als Hauptaufgabe seines Lebens verstanden.

    5. Geschichte der "Wilhelmspflege" unter Hausvater Leopold Stern - 1873 bis 1899

    Unter Liebmanns Nachfolger Leopold Stern waren insgesamt über 200 Kinder in der Wilhelmspflege. Etwa acht Zöglinge pro Jahr wurden aufgenommen; insgesamt war das Haus mit 40 und mehr Kindern belegt. Nach einer Zusammenstellung sind von den Jungen später viele Kaufleute geworden, zehn wurden Bäcker und Konditor, drei Mechaniker, zwei Uhrmacher, zwei Schuhmacher, je einer Gerber, Goldarbeiter und Xylograph. Die Mädchen wurden Hausangestellte, Näherinnen, kamen aber auch damals schon in kaufmännische Berufe. Der Erziehungsstil in der Wilhelmspflege hat sich unter Leopold Stern grundlegend verändert. Nicht nur Unterricht und Beaufsichtigung der Kinder standen an erster Stelle, vielmehr sollte das Heim einem Zögling möglichst weitgehend das verlorene Elternhaus ersetzen. Stern führte dazu die Tischgemeinschaft mit den Kindern ein; seine Frau übernahm die Rolle einer Hausmutter. Sterns eigene fünf Kinder saßen an demselben Tisch wie die Zöglinge und wurden mit ihnen in Unterricht und Freizeit gemeinsam erzogen. Die Erziehung war von wesentlich größerer Freiheit geprägt. Die Kinder erhielten nicht nur Wohnung, Verpflegung und Unterricht, sondern insgesamt mehr Eigenverantwortlichkeit. Der neue Erziehungsstil läßt sich auch am Tagesablauf der Zöglinge feststellen. Nach dem Mittagessen hatten sie nun zwei Stunden Freizeit; auch nach dem Abendessen fiel jede Arbeit und Unterweisung weg. Die Kinder sollten auch Zeiten haben, in denen sie sich selbst gehörten und die sie nach eigenem Wunsch ausfüllen konnten. Sie sollten in solchen Stunden das Gefühl haben, selbst zu bestimmen, womit sie sich beschäftigen wollten. Besonders die Sabbate und die Sonntagnachmittage wurden zu ruhiger Selbstentfaltung freigegeben. Trotz der Prioritätenverschiebung kam bei Stern der Unterricht nicht zu kurz. Mit großer Mühe hat er für alle Fächer, insbesondere Geschichte, Geographie, Naturkunde, geometrisches und Freihandzeichnen eigene Lehrpläne geschaffen, die er am Leben zu orientieren suchte. Im Gebäude der Wilhelmspflege in der Entengrabenstraße herrschte in den ersten Jahrzehnten oft eine notvolle Enge. Kranke Kinder konnten nicht in ein Krankenzimmer gebracht werden, sondern mußten mit den anderen im gleichen Schlafsaal bleiben; im Haus war auch keine Badegelegenheit vorhanden. Einen Betsaal gab es gleichfalls nicht; die Andachten wurden im Schulraum gehalten. Nach langwierigen Verhandlungen mit dem Ausschuß des Vereins erhielt Leopold Stern die Genehmigung für einen gründlichen Umbau. Im Zuge der Ausführung seiner Pläne 1880/81 wurde der dritte Stock des Gebäudes, der bisher nur im Mittelbau vorhanden war, vollständig ausgebaut und somit Platz für 15 weitere Zöglinge, für einen Betsaal und einen Baderaum gewonnen. Der Abschluß der Bauarbeiten und das 50jährige Bestehen des Vereins konnten am 30. Oktober 1881 zusammen gefeiert werden. BILD IN DER BROSCHÜRE ANSEHEN! Zur Tätigkeit des Waisenhausvereines: Nach dem Tod Adolf Levis folgte von 1883 bis 1907 im Vorstand des Vereins Oberkirchenvorsteher Moritz Heymann Goldschmidt. Ihn zeichneten nach einer Charakteristik aus: eine "vornehme, edle Gesinnung, eine wohltuende Ruhe und Würde und das beste Wollen... Er hat die ungehinderte Fort- und Weiterentwicklung der Anstalt nach jeder Richtung gefördert und ist Kindern und Erziehern durch seine reine charaktervolle Lebensführung ein guter Führer gewesen". Leopold Stern ist im Juni 1899 plötzlich verstorben. Zu seinem Nachfolger im Amt des Hausvaters wurde Max Eichberg berufen. Doch sollte er nur ein Jahr in dieser Stelle bleiben, da gegen ihn eine Untersuchung wegen eines eventuell vorgekommenen Sittlichkeitsvergehens eingeleitet werden mußte. Die Untersuchung wurde zwar eingestellt, dennoch blieb Eichberg nicht im Amt; an seiner Stelle wurde nun der bisherige zweite Lehrer Theodor Rothschild berufen.

    6. Geschichte der Wilhelmspflege unter Hausvater Theodor Rothschild - 1900 bis 1939

    a) Person und Familie Theodor Rothschilds

    Theodor Rothschild war von 1900 bis Ende August 1939 Hausvater, Hauptlehrer und Vorsteher des Waisenhauses, zugleich Vorsitzender und Vorsänger der jüdischen Gemeinde Esslingens. Er ist am 4. Januar 1876 in Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb als Sohn des Handelsmannes Isak Rothschild und seiner Frau Frieda geb. Bernheimer geboren. Er hat in Buttenhausen die Schule besucht und mit sehr guten Zeugnissen abgeschlossen. Seit 1892 studierte er am evangelischen Lehrerseminar in Esslingen und legte hier drei Jahre später seine 1. Dienstprüfung ab. Seine ersten Schulverweserstellen - wie man es damals nannte - waren an den jüdischen Schulen in Talheim bei Heilbronn, in Buttenhausen und in Archshofen bei Creglingen. Im Dezember 1896 wurde er an der Seite Leopold Sterns Hilfslehrer im Waisenhaus in Esslingen; diese Stelle hatte er auch unter der kurzen Zeit des Hausvaters Max Eichberg inne. Nach dessen Weggang aus Esslingen wurde er Hausvater an der Wilhelmspflege. Im August 1900 hat er Anna Stern, die Tochter Leopold Sterns geheiratet. Aus der Ehe gingen die Töchter Fanny und Berta hervor. Fanny hat später Rabbiner Emil Schorsch geheiratet, deren Sohn ist der jetzige Präsident des Leo Baeck Institutes in New York Prof. Dr. Ismar Schorsch. Anna Rothschild starb im November 1925 in Esslingen. Ihr Grab kann man noch heute im jüdischen Teil des Ebershaldenfriedhofes in Esslingen besuchen. Im März 1927 heiratete Theodor Rothschild in zweiter Ehe seine Schwägerin Jette Kahn geb. Stern, Witwe des Ulmer Kaufmanns Leopold Kahn. Sie starb freilich schon vier Jahre später im Januar 1931 und wurde in Ulm beigesetzt. Noch einmal heiratete Theodor Rothschild am 4. Januar 1938 in Esslingen Wilhelmine (bzw. Ina) geb. Herzfeld, die seit 1929 Hauswirtschafterin in der Wilhelmspflege war. Theodor Rothschild wurde als Leiter der Wilhelmspflege auf Grund seines Engagements in vielen Belangen der württembergischen Juden zu einer der wichtigsten jüdischen Persönlichkeiten Württembergs. Er war Mitautor und Verfasser mehrere pädagogischer Schriften, Bibelausgaben und Schulbüchern. Die bekanntesten Bücher sind seine "Bausteine", die weite Verbreitung in den jüdischen Schulen in Deutschland fanden. Auf vielen Tagungen und in Akademien hat Rothschild Vorträge gehalten. Er stand dem "Verein israelitischer Lehrer" in Württemberg vor, war Vorsitzender des "Landesverbandes der jüdischen Jugendvereine Württembergs". Seit 1936 Mitglied der israelitischen Landesversammlung in Stuttgart. Rothschilds Persönlichkeit wird in zahlreichen Schilderungen und Briefen ehemaliger Schüler und Bekannter bis heute immer wieder anerkennend hervorgehoben. Siegfried Weil, Zögling und später Lehrer in der Wilhelmspflege schrieb über ihn: "Er war religiös und sozial orientiert. Und er hat seine Lebensaufgabe darin gesehen, Unglücklichen zu helfen. Dies hat sich nicht nur beschränkt auf uns Kinder oder auf uns Mitarbeiter, sondern auch auf die Gemeinde, auf seine jüdische Gemeinde... Er war ein Seelsorger seltener Art; denn er kannte seine Bibel, und er lebte so, wie die Propheten sich vorstellen, dass man leben sollte. Da hat der Prophet Micha vor 2500 Jahren geschrieben: Es ist dir gesagt Mensch, was gut ist, und was der Herr von dir fordert, nämlich Recht tun, Liebe üben und demütig wandeln mit deinem Gott' Und das hat er gemacht." Alfred Dreifuß, ehemaliger Waisenhausschüler schrieb über ihn: "Einem Menschen seiner Aufrichtigkeit und lauteren Gesinnung bin ich selten begegnet."

    b) Leben in der Wilhelmspflege von 1900 bis um 1933

    Unter Theodor Rothschild erhielt die Erziehung der Kinder im Waisenhaus wieder ein eigenes Gepräge. Die Kinder sollten in weitgehender Freiheit erzogen werden. Dies zeigte sich auch äußerlich, denn die bis dahin vorgeschriebene einheitliche Kleidung der Zögling verschwand; das Kind sollte in seinen eigenen Kleidern auch auf der Straße nicht gleich als Kind der Wilhelmspflege erkennbar sein. Eine wichtige Rolle spielte im Miteinanderleben der Gedanke der Großfamilie im Haus. Hauseltern, Mitarbeiter und Kinder sollten sich als Glieder einer Familie fühlen. Im Speisesaal wurden die großen, langen Tische auseinandergerückt und kleinere Tischgemeinschaften geschaffen, an denen jeweils ein Erzieher oder ein älterer Zögling "den Vorsitz" hatte. Die Selbständigkeit der Kinder zu fördern, war bereits bei den vorschulpflichtigen Kindern ein wichtiges Ziel. Jeder sollte dazu im Haus eine Arbeit finden können, die ihm zusagte und seiner Veranlagung entsprach. Möglichkeiten gab es genug, vor allem nach dem Umzug in das neue Gebäude oberhalb der Burg, wo alsbald auch ein kleiner landwirtschaftlicher Betrieb angeschlossen war. Dieses neue Gebäude oberhalb der Esslinger Burg war im November 1913 nach zweijähriger Bauzeit eingeweiht worden. Er konnte mit Spenden aus allen jüdischen Gemeinden Württembergs finanziert werden. Zur Einweihung kamen auch das württembergische Königspaar, Vertreter der staatlichen und städtischen Behörden und viele mehr. Der erwähnte landwirtschaftliche Betrieb war ein besonderes Anliegen Rothschilds. Hier waren seit 1917 jeweils drei Kühe, 30 Hühner und etwa 120 Ar Äcker und Obstgärten zu versorgen. Nachdem nun auch die Zahl der Zöglinge vermehrt werden konnte, ist der Schulbetrieb alsbald auf drei Klassen erweitert worden. Wenige Monate nach der Einweihung des neuen Waisenhauses begann der erste Weltkrieg. Es zeugt von der Vaterlandsliebe der schwäbischen Juden, dass der Waisenhaus-Verein sofort nach Kriegsbeginn die Hälfte der Räume im Waisenhaus dem Roten Kreuz unentgeltlich für die gesamte Kriegszeit zur Verfügung stellte. In großer Enge wurde der Hausbetrieb weitergeführt. Über 2000 verwundete und kranke Soldaten wurden in diesen Jahren im Haus aufgenommen und verpflegt. Die Waisenhauskinder waren ihrerseits in die sogenannte "nationale Pflicht" einbezogen. Die Mädchen mußten Watte zupfen, Binden aufrollen, Uniformen flicken. Die Jungen gingen für die Soldaten zu den Apotheken der Stadt, betätigten sich als Briefträger. Von den früheren Zöglingen des Waisenhaus sind im ersten Weltkrieg 7 der insgesamt 33 eingezogenen jungen Männer gefallen. Über Unterricht und Freizeit siehe beiliegenden Plan... Zum religiösen Leben im Haus unter Theodor Rothschild liegen zahlreiche Berichte vor. Im Mittelpunkt der Andacht und der Feiern stand seit 1913 im Neubau der Wilhelmspflege der Betsaal, eine Haussynagoge mit Toraschrein und allen anderen in einer Synagoge vorhandenen Einrichtungsgegenständen. Jungen und Mädchen saßen in voneinander getrennten Bänden. Auf dem Harmonium im Betsaal begleitete Theodor Rothschild gewöhnlich selbst die gesungenen Lieder. Täglich gab es eine Früh- und Abendandacht. Die Gottesdienstgebete wurden hebräisch gesprochen, danach wurde ein deutscher Choral gesungen. Der Freitagnachmittag diente der Vorbereitung auf den Sabbat. Jeweils ein Großer und ein Kleiner hatten dabei die Aufgabe, einen bestimmten Bereich im Haus, Hof, Stall oder im Garten zu reinigen. Anschließend badeten die Kinder und bekamen frische Wäsche und Kleider. Abends ging man gemeinsam in die Stadtsynagoge in Esslingen. Nach der Rückkehr ins Heim wurden im Speisesaal Sabbatlieder gesungen und von Hausvater Rothschild ein Geschichte aus dem Sagenschatz des jüdischen Volkes vorgelesen. Besonderer Wert wurde auf die intensive Feier der Festtage des jüdischen Jahres gelegt. Im Oktober 1931 stand ein bemerkenswertes Jubiläum an: 100 Jahre waren es her, dass sich der von Isak Heß initiierte Waisenverein konstituiert und die ersten Kinder in seine Obhut genommen hatte. In einer eindrücklichen Feier wurde das Jubiläum begangen. Vertreter staatlicher und städtischer Behörden, Vertreter der israelitischen Gemeinden des Landes würdigten die Arbeit, die im Haus geschah. Hausvater Theodor Rothschild wurde in besonderer Weise gewürdigt und ihm der Titel eines Anstaltsdirektors verliehen. Der Präsident des Israelitischen Oberrats, Ministerialrat Dr. Otto Hirsch, stellte in seinem Glückwunsch der "Wilhelmspflege" das Zeugnis aus, dass in ihr stets "ein echt jüdischer und echt schwäbischer Geist" geherrscht habe. Der in Stuttgart im Ruhestand lebende frühere Esslinger Oberbürgermeister Dr. von Mülberger, rühmte die "Fülle von Arbeit und Menschenliebe", die sich in der Anstalt widerspiegle.

    c) Nach 1933

    In den Jahren nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 hat sich die Situation auch für die Wilhelmspflege grundlegend geändert. Zwar war bis 1938 noch ein relativ ungestörter Betrieb des Hauses möglich, dennoch änderte sich die Situation insofern, dass nun auch zunehmend Kinder in die Wilhelmspflege aufgenommen wurden, für die der Schulbesuch an ihren Heimatorten unzumutbar bzw. unmöglich geworden war. Die Zahl der im Haus untergebrachten Kinder betrug immer zwischen 70 und 80. Die jeweilige Aufenthaltsdauer verkürzte sich auf teilweise wenige Monate der Kinder, da vielen Eltern daran gelegen war, die Kinder ins Ausland zu verbringen, oder gemeinsam mit ihnen auszuwandern, soweit sie ein Visum für ein anderes Land erhielten. Das Haus wurde in diesen Jahren zu einem wichtigen Mittelpunkt im jüdischen Leben Württembergs. Immer wieder fanden hier Fortbildungen für die jüdischen Lehrer Württembergs statt, da ihnen der Besuch anderer Fortbildungsveranstaltungen nicht mehr möglich war. Im Haus selbst waren die Voraussetzungen gut, dass viele Kinder auch für die Auswanderung vorbereitet werden konnte. Etlichen Kindern ist gerade die Einarbeitung in dem landwirtschaftlichen Betrieb später bei der Auswanderung nach Palästina zugute gekommen, wenn sie etwa in einem Kibbuz dann eine neue Heimat fanden.

    d) Die Ereignisse am 10. November 1938

    Im Zuge der in ganz Deutschland während der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 angerichteten Schandtaten wurde auch das Waisenhaus um die Mittagszeit des 10. November völlig demoliert, mehrere Lehrer mißhandelt, die Kinder vertrieben. Zunächst sah es freilich so aus, als ob in Esslingen im Zusammenhang mit der Pogromnacht nichts geschehen würde. Zwar wurde auch in Esslingen in der Nacht Kreispropagandaleiter Rothweiler telefonisch aus Stuttgart informiert, dass die Zerstörung der Esslinger Synagoge zu veranlassen sei, dennoch hat er erst am Morgen den NSDAP-Kreisleiter Eugen Hund von diesen Anrufen informiert. Hund selbst hat sich ablehnend zu irgendwelchen Gewaltmaßnahmen in Esslingen geäußert mit den Worten: "So etwas Narrets machen wir nicht". Dennoch gab Hund dem Kreisobmann der Deutschen Arbeitsfront Emil Veil den Auftrag, mit Angehörigen Esslinger Betriebe auf dem Marktplatz eine Kundgebung gegen die Juden durchzuführen, um so den Anordnungen aus Stuttgart wenigstens zum Teil nachzukommen. Weder Hund noch Veil wollten selbst bei dieser Kundgebung sprechen und bestimmten einen Angestellten der DAF zum Redner, der auf die Frage, worüber er reden solle, von der Kreisleitung auf die einschlägigen Aufsätze in den Tageszeitungen verwiesen wurde. Gegen Mittag fanden sich auf dem Marktplatz die aus den Betriebenen zur Kundgebung hergerufenen Angehörigen zusammen. Herre hielt eine hetzerische Rede gegen die Juden, die mit den Worten endete, es könne so nicht weitergehen, es müsse etwas gegen die Juden unternommen werden. Dabei erwähnte er die Rabbiner des jüdischen Waisenhauses. Darauf wurden aus der Menge Rufe laut, man solle zum Waisenhaus und zur Synagoge marschieren. So entstanden aus den Kundgebungsteilnehmern zwei Züge. Ein Teil machte sich gegen 12.30 Uhr vom Marktplatz aus über die Burgsteige zur Wilhelmspflege auf, wo die Kinder mit den Angestellten gerade beim Mittagessen saßen. Lehrer Jonas, der vom Speisesaal bereits in sein Zimmer im ersten Stock gegangen war, sah als erster die Menschenmenge mit großem Geschrei auf das Waisenhaus zukommen. Viele waren bewaffnet mit Stöcken, Eisenstäben, Äxten, Hammern. Die Randalierer kamen durch den Hof, drangen in das Haus ein und begannen sofort, Fenster und Türen zu zerschlagen. Ein Teil der Männer stürmte in den Speisesaal, die Kinder wurden mit dem Ruf "Raus mit euch..." vertrieben. Die Tische mit Geschirr und Essen wurden umgestoßen oder die Tischtücher mit allem Gedeckten heruntergezogen. Gerade war die Suppe ausgegeben worden, die Teller mit heißer Suppe fielen auf Kinder und Boden. Die Einrichtung in der Küche sowie in anderen Räumen wurden zerschlagen. Aus dem Turnsaal holten sich einige Männer Keulen und Stangen als Werkzeuge weiterer Zerstörung. Im Haus wurden die Schränke aufgebrochen. Die Wertgegenstände von Personal und Schüler, ihre Uhren, Wecker, ihre Ersparnisse wurden gestohlen. In den Unterrichtsräumen wurden die Schulbänke umgestürzt; Tinte lief über den Boden. Im inneren Hof unter dem Amtszimmer Theodor Rothschilds wurde ein Scheiterhaufen errichtet, auf den Torarollen, Gebetsschale, Gedenktafeln und Gebetbücher aus dem Betsaal sowie zahlreiche andere Bücher aus dem Haus geworfen und verbrannt wurden. Auch die Lehr- und Lernmittel wie Karten, Winkel, Bleistifte und dergleichen sind in den Hof geleert und großenteils mitverbrannt worden. Die Kinder standen unterdessen verstört, schreiend und weinend vor dem Haus und mußten das zerstörerische Treiben ansehen. Als einige von ihnen ins Haus gehen wollten oder mußten, wurden sie unter Drohungen rausgeworfen: Wenn ihr nicht verschwindet, werfen wir euch ins Feuer. Die Lehrer Fritz Samuel und Albrecht Jonas sowie Hausvater Rothschild wurden bedroht, geschlagen und mißhandelt. Fritz Samuel ist dabei mit Keulen aus dem Turnsaal bewußtlos geschlagen worden. Ungefähr 1000 Menschen sahen den Ausschreitungen zu. Beendet wurden die Ausschreitungen erst, als Kreisleiter Hund erschien, der erst über Telefon von den Gewalttaten informiert wurde. Er war selbst nicht einmal bei der Kundgebung auf dem Marktplatz gewesen. Hund hielt beim Waisenhaus eine Ansprache, in der erklärte, er verstehe zwar die berechtigte Empörung der Volksgenossen, es sei aber einer Kulturnation wie der deutschen nicht würdig, sich so aufzuführen. Er schickte die Randalierer umgehend zurück in die Betriebe. Die Lehrer Samuel und Jonas wurden später auf einen Lastwagen gebracht und abtransportiert, sie kamen wenige Tage später in das KZ Dachau. Das Ehepaar Rothschild erhielt den Befehl, das Haus mit den Kindern, die im Verlauf der Aktion nicht inzwischen geflüchtet waren, zu räumen. Viele Kinder hatten sich auf den Weg nach Stuttgart gemacht, fanden unterwegs teilweise Hilfe von Passanten. In den Tagen darauf wurden sie bei bekannten oder verwandten jüdischen Familien in Stuttgart und Umgebung untergebracht.

    e) Wiedereröffnung und endgültige Schließung der Wilhelmspflege 1939.

    Schon wenige Tage nach den Ereignissen am 10. November 1938 bemühte sich der Verein "Israelitische Waisen- und Erziehungsanstalt Wilhelmspflege" darum, den Heimbetrieb in Esslingen wieder aufnehmen zu dürfen. Dies stieß auf wenig Gegenliebe bei der Esslinger Stadtverwaltung, die Interesse an einem möglichst baldigen Erwerb des ganzen Anwesens oberhalb der Burg hatte. Auf Beschluß der Reichsministerien, dass der Unterricht der schulpflichtigen jüdischen Kinder jedoch in den bisherigen Einrichtungen weitergeführt werden solle, konnte im Februar 1939 die Wilhelmspflege unter Theodor Rothschild nochmals eröffnet werden. Bis zum April 1939 waren die Hauseltern Rothschild mit Lehrkräften, Angestellten und 65 Zöglingen wieder ins Haus eingezogen. Der Unterricht wurde wieder aufgenommen, wenngleich nur für wenige Monate. Am 26. August 1939 erhielt Rothschild die Mitteilung, dass auf Grund des Mobilmachungsbefehles das Waisenhaus zum Zweck eines Seuchenlazaretts beschlagnahmt werde und er es deshalb mit den Kindern zu räumen habe. Die Kinder wurden in jüdischen Familien - meist in Stuttgart untergebracht, wohin nun auch Theodor Rothschild und seine Frau verzogen.

    f) Das Schicksal Theodor Rothschilds, seiner Frau und der Waisenhauszöglinge

    Bereits 1938 hätte Theodor Rothschild die Möglichkeit gehabt, in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Dies lehnte er jedoch ab, da ihm von den Behörden mitgeteilt worden war, die Wilhelmspflege würde sofort geschlossen. Dieses Risiko wollte er im Blick auf die Waisenhauskinder nicht eingehen, da die meisten von ihnen kein anderes Zuhause als Esslingen hatten. Nach der endgültigen Schließung der Wilhelmspflege im September 1939 übernahm Theodor Rothschild die Leitung der Stuttgarter jüdischen Schule und war zugleich in vielfältiger Weise für das noch bestehende jüdische Gemeindeleben mitverantwortlich. Im Oktober 1941 mußten er und seine Frau auf Weisung der Gestapo in ein sogenanntes Judenhaus umziehen. Von dort aus wurde das Ehepaar Rothschild am 22. August 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert; Theodor Rothschild und der Heilbronner Oberlehrer Karl Kahn waren die jüdischen Transportleiter dieses Deportationszuges. Im selben Transport befanden sich auch zehn Jungen und Mädchen aus der Stuttgarter jüdischen Schule; keines der Kinder überlebte. Sie wurden von Theresienstadt nach Auschwitz oder andere Lager verschickt. Auch in Theresienstadt hat sich Theodor Rothschild mit großer Energie für die Mitgefangenen eingesetzt. Er half bei der Pflege und Seelsorge an den Kranken und Sterbenden. Täglich starben ja hunderte von Menschen in Theresienstadt an Krankheiten, Seuchen, Unterernährung oder im Winter an Erfrierungen. Von den mit ihm deportierten 1200 Juden aus Württemberg waren nach wenigen Monaten nur noch 400 übrig. Auch Theodor Rothschild hat schon nach kurzem schwere Krankheitszeiten durchstehen müssen. Trotzdem gab er die Hoffnung nicht auf. Er hoffte nach Durchleben der Lagerzeit noch nach Palästina auswandern zu können. Dazu lernte er mit einem mitgefangenen Arzt Neuhebräisch. Seit Dezember 1943 verschlechterte sich jedoch Rothschilds Gesundheitszustand immer mehr; am 10. Juli 1944 starb er schließlich an Unterernährung und einer Lungenentzündung. Seine Frau Ina überlebte Theresienstadt, wo sie im Februar 1945 befreit wurde und über die Schweiz in die Vereinigten Staaten auswanderte. Über das Schicksal der ehemaligen Waisenhauszöglinge war bis vor kurzem großenteils noch wenig bekannt, da insgesamt nur die Namen von etwa 50 Zöglingen bekannt waren. Auf Grund intensiver Recherchen konnte ich in in den vergangenen Monaten noch die Namen von ca. 200 weiteren Zöglingen aus der Zeit zwischen dem 1. Weltkrieg und 1939 ausfindig machen, sodass inzwischen eine Liste von über 250 Namen vorliegt. Von diesen sind mindestens 50 umgekommen, dazu 7 der ehemaligen Lehrer und 4 der ehemaligen Angestellten. Stellvertretend für alle möchte ich die Namen der fünf jüngsten Waisenhauszöglinge nennen, die in der Liste der Umgekommenen stehen:

    Robert Hammmel, geb. 21. Januar 1931, im März 1943 nach unbekannt deportiert;

    Richard Heß, geb. 2. Dezember 1930; am 1. Dezember 1941 nach Riga deportiert;

    Manfred Isaak, geb. 8. Februar 1932, 1942 nach unbekannt deportiert;

    Margot Ullmann, geb. 13. Mai 1930; umgekommen in Polen nach Deportation;

    Theodor Ullmann, geb. 16. September 1933; am 3. April 1942 nach Izbica deportiert.

    7. Nachgeschichte

    Das Gebäude der Wilhelmspflege diente bis zum Sommer 1945 als Kriegslazarett, danach als Kranken- und Altersheim. Vom Juni 1947 bis April 1950 war hier nochmals ein jüdisches Kinderheim eingerichtet. Hier konnten jeweils 90-100 unterernährte oder verwaiste jüdische Kinder aus ganz Deutschland einen je vierwöchigen Erholungsaufenthalt verbringen. Durch die seit Gründung des Staates Israel einsetzende Auswanderungswelle der in Deutschland damals lebenden Juden, meist Überlebende von Konzentrationslagern, ging der Bedarf für ein solches Heim jedoch schnell zurück. Nach langer Suche für eine neue Nutzung zog 1953 das Staatliche Waisenhaus in der ehemaligen Wilhelmspflege ein, das hier bis 1990 beheimatet war. Seit 1992 ist das Haus mit Gruppen der Wilhelmspflege aus Stuttgarter Plieningen belegt, einer diakonischen Einrichtungen, die Erziehungshilfe in Heim- und Tagesgruppen leistet. Seit 1983 heißt der Altbau der Wilhelmspflege Theodor-Rothschild-Haus. So kommt zumindest nach wie vor dieses Gebäude Kindern und Jugendlichen zugute und der Name des Hauses bleibt Erinnerung an eine große Persönlichkeit und Mahnung zu Menschlichkeit und Nächstenliebe im Geist der biblischen Weisungen.